Ressourcen entnehmen, Zukunft sichern: Graue Emissionen verstehen
Bauen prägt Landschaften – und Budgets. Der größte Hebel liegt heute oft vor dem Einzug: in Materialwahl, Tragwerk und Bauweise. Wir zeigen, wie sich graue Emissionen radikal reduzieren lassen – und warum neue Gaskraftwerke nur mit klaren Grenzen eine Brücke sind.
01. Status Quo
Wir leben in einem Land, das mit großer Ingenieurskunst Häuser, Brücken und Schulen baut – und damit zugleich riesige Mengen an Rohstoffen bewegt. Jede Tonne, die wir entnehmen, wird zu CO₂: in der Herstellung, im Transport, im Betrieb und beim Rückbau. Wer über Klimaschutz im Bauwesen spricht, spricht über Ressourcenentnahme und graue Emissionen.
02. Deutschlands Materialhunger – eine Zahlenspur
Fakten, die den Maßstab setzen. Deutschland verbrauchte 2023 1.024 Mio. Tonnen Material; pro Kopf 12,3 t. Das ist weniger als 2010, aber noch meilenweit vom ressourcenschonenden Pfad entfernt. Die Statistik heißt „Inländische Materialverwendung (DMC)“ – und sie ist die nüchternste Beschreibung unseres Materialhungers. SDG Indikatoren
Bau dominiert. Der Löwenanteil sind nichtmetallische Minerale – Sand, Kies, Kalkstein, Ton, Gips. Genau jene Stoffe, aus denen Gebäude, Straßen und Infrastrukturen bestehen. Parallel wächst der Abfallberg: ~208 Mio. t mineralische Bau‑ und Abbruchabfälle allein 2022; das sind ~61 % des gesamten deutschen Abfallaufkommens. Umweltbundesamt
Recycling – gut, aber nicht genug. Über 90 % der mineralischen Bauabfälle werden verwertet – ein Erfolg, der jedoch an Grenzen stößt: Das Substitutionspotenzial ist vielerorts ausgeschöpft; aus RC‑Körnungen wird nicht automatisch Primärrohstoff im gleichen Maßstab. Folge: Ohne „Design for Disassembly“ und Re‑Use bleibt der Neuabbau hoch. Euwid Recycling+1
Rohstoffrealität 2023. Deutschland importierte mineralische und energetische Rohstoffe (inkl. Vorprodukte) im Wert von 216 Mrd. € – ein Rückgang preisbedingt, aber nicht strukturell gelöst. Die Abhängigkeit bleibt. Deutsche Rohstoffagentur
Konsequenz: Wer fürs Bauen nur über Energieeffizienz im Betrieb spricht, verschiebt das eigentliche Thema: Ressourcenentnahme.

03. Der blinde Fleck: Graue Emissionen des Bauens
Definition. Graue Emissionen sind alle Emissionen, die vor der Inbetriebnahme entstehen – vom Steinbruch bis zur Baustelle – plus Instandhaltung und Rückbau. In hochwertigen, energieeffizienten Gebäuden machen sie > 50 % des Lebenszyklus‑CO₂ aus. Das ist der eigentliche Game‑Changer. Werner Sobek AG+1
Die großen Treiber:
Zement & Beton. Global verursacht Zement ~7–8 % der CO₂‑Emissionen. Prozess‑CO₂ aus dem Klinkerbrennen ist hartnäckig; Effizienz hilft, aber reicht nicht allein. Chatham House+1
Stahl. Hohe Temperaturen, fossile Energieträger, Legierungen – Emissionen fallen in Erzeugung und Halbzeug an.
Glas/Metalle/WDVS. Viele Baustoffe tragen über Vorprodukte erheblich zum Embodied Carbon bei.
Deutschland-spezifisch. Die Zementindustrie emittierte ~20 Mt CO₂e (2018) und zählt zu den zehn emissionsstärksten Industriezweigen. Ohne CCS/CCU und Klinker‑Substitution sind Tiefenreduktionen nicht erreichbar. Umweltbundesamt
Operative Emissionen vs. graue Emissionen. Internationalen Berichten zufolge verursacht der Gebäudebereich (Betrieb + Bau) 37 % der energie- und prozessbedingten CO₂‑Emissionen – mit sinkenden Betriebsanteilen dank Effizienz und Erneuerbaren. Damit rücken graue Emissionen relativ noch stärker in den Fokus. GlobalABC
Praxiswerkzeuge. In Deutschland sind ÖKOBAUDAT (Datenbank) und eLCA (Bilanzierungs‑Tool) die Standardbasis für BNB/Leitfaden‑Nachhaltiges‑Bauen – verbindlich im Bundesbau, de facto Branchenstandard. Wer verlässliche CO₂‑Budgets will, kommt daran nicht vorbei. ÖKOBAUDAT+2bauteileditor.de+2

04. Warum neue Gaskraftwerke nicht zu Netto-Null führen
Die Pläne. Die Bundesregierung hat 2024 eine Kraftwerksstrategie beschlossen. Zunächst sollten 4 × 2,5 GW H₂‑ready‑Gaskraftwerke ausgeschrieben werden (gesamt 10 GW), später präzisiert zu 5 GW Neubau plus 2 GW H₂‑ready‑Modernisierung in der ersten Säule des Kraftwerkssicherheitsgesetzes. Umstellungspflicht auf Wasserstoff ab Jahr 8 nach Inbetriebnahme bzw. bis 2035–2040. DServer Bundestag+3Logistic Natives e.V.+3erneuerbareenergien.de+3
Das Infrastrukturversprechen. Parallel genehmigte die Bundesnetzagentur das Wasserstoff‑Kernnetz: 9.040 km bis 2032, 60 % Umwidmung von Gasleitungen, 40 % Neubau; geschätzte 18,9 Mrd. € Invest. Bundesnetzagentur+1
Drei Sachprobleme, die oft unterschätzt werden:
Methan-Leckagen. Erdgas ist nicht „sauber“, wenn entlang der Kette Methan entweicht (kurzfristig stärkeres Treibhausgas als CO₂). Die IEA zeigt: Energiebezogene Methanemissionen lagen 2023/2024 nahe Rekordhoch (~120 Mt CH₄/Jahr). Die EU reagiert mit einer Methan‑Verordnung (MRV/LDAR, Importvorgaben). Gut, aber Emissionen bleiben real. Reuters+3IEA+3IEA+3
H₂‑Knappheit und Effizienz. Strom → Wasserstoff → Strom hat ~30–40 % Round‑Trip‑Wirkungsgrad; Batterien/Pumpspeicher liegen deutlich höher. H₂ ist „no‑regret“ vor allem für Industrieprozesse, Stahl/chemische Grundstoffe – weniger zur Massenstromerzeugung. S&P Global+2ScienceDirect+2
Lock‑in‑Risiko. Jede neue Gas‑GW bindet Kapital und CO₂‑Budgets – falls die H₂‑Umrüstung stockt oder Brennstoff nicht in grün verfügbar ist. Schon heute warnen Studien vor Oversizing und fordern Fokus auf no‑regret‑Anwendungen. agora-energiewende.org+1
Worum es nicht geht. Versorgungssicherheit ist nötig. Doch im Gebäudesektor erreichen wir Netto‑Null schneller durch: Effizienz, Elektrifizierung, Wärmepumpen, Sanierungswelle, Lastmanagement und Speicher – nicht durch zusätzliche fossile Brückentechnologie im Stromsystem. Deutschlands THG‑Emissionen sanken 2024 auf ~649 Mt CO₂e (‑3,4 % ggü. 2023) – vor allem dank weniger fossiler Stromerzeugung. Dieser Kurs muss verstärkt, nicht verwässert werden. Umweltbundesamt

05. Verantwortung übernehmen – auch für kommende Generationen
Ich bin Bauingenieur. Und Vater. Wenn meine Tochter über eine Brücke geht, soll sie sich auf Statik und Ethik gleichermaßen verlassen können. Statik: Tragfähig. Ethik: verantwortbar. Unsere Projekte sind Eingriffe in Landschaft, Stoffkreisläufe und CO₂‑Budgets. Jedes Kilogramm Material ist eine Entscheidung über Zukunftsfähigkeit – auch wenn es nicht in der Heizkostenabrechnung auftaucht.
Unser Kompass:
Nicht alles, was wir können, sollen wir bauen.
Alles, was wir bauen, muss rückbaubar, reparierbar, wiederverwendbar sein.
Jedes Projekt bekommt ein CO₂‑ und Materialbudget – und daran halten wir uns.

06. Was sofort wirkt – 10 Hebel, die wir heute einsetzen
1) Bestand vor Neubau. Abriss ist das letzte Mittel. Die größte Vermeidung entsteht durch Nicht‑Bauen: Flächen sparen, umbauen, nachverdichten, Change of Use.
2) Whole‑Life‑Carbon als Standard. Wir bilanzieren konsequent nach BNB/Leitfaden Nachhaltiges Bauen mit ÖKOBAUDAT und eLCA – von der Konzeptphase bis zum Rückbau. Transparenz schafft Entscheidungen, die halten. Nachhaltiges Bauen+2ÖKOBAUDAT+2
3) Tragwerk leicht machen. Schlanke Systeme, Hybridbau, optimierte Spannweiten. Weniger Klinker (CEM II/III), SCMs (Hüttensand, PFA, Kalksteinmehl), Fertigteil‑Optimierung, Design to Weight. Hintergrund: Zement/Beton sind der große Block im Embodied Carbon. Chatham House
4) Stahl mit Köpfchen. Bauteile re‑usen (Bauteilbörsen), Profile entschlacken, Schraub‑ statt Schweißdetails (Demontage).
5) Holz & Bio‑Based, wo sinnvoll. Holz‑Hybrid statt Holz‑Dogma: Brandschutz, Dauerhaftigkeit, Rückbau und Feuchteführung sind von Anfang an mitzudenken.
6) Materialpässe & DfD. „Materials Passports“ und Design for Disassembly sichern Werterhalt und Re‑Use – ein Muss für Kreislaufbau. Der EU‑BMB‑Weg (BAMB) liefert die Blaupause. Bamb2020+2Circular Cities and Regions Initiative+2
7) Baulogistik & Transport. Regionale Lieferketten, Schiene, E‑Flotte, Bündelung. In ländlichen Projekten: Zwischenlager für Re‑Use‑Komponenten aufbauen.
8) Fassade & TGA entflechten. Modular, reparierbar, rückbaubar – keine verklebten Materialmix‑Sandwiches ohne Trennbarkeit.
9) Betrieb „Effizienz zuerst“. Gebäudebetrieb mit digitalem Monitoring, Lastmanagement, natürlicher Klimatisierung, robusten Hüllstrategien. Global liegt der Gebäudebereich bei 34 % Energiebedarf und 37 % CO₂ – Effizienz ist Pflicht. GlobalABC
10) Stromsystem ohne Lock‑in. Flexible Speicher (Batterie, Wärme, Wasser), Demand Response, Sektorkopplung – statt neuer fossiler Erzeugung. H₂ bleibt gezielt für Industrie‑No‑Regrets und Langzeitspeicher mit knapper Nutzung; die Round‑Trip‑Verluste sprechen gegen flächige Rückverstromung. S&P Global
